oder hat jemand von euch während der Corona-Krise auf dem Balkon gestanden und für Investmentbanker geklatscht?
Waldemar Zeiler, Unfuck the Economy
Eine neue Wirtschaft und ein besseres Leben für alle – Mit einem Vorwort von Maja Göpel
Der Wandel eilt. Nicht nur, weil die Klimakrise und die Biodiversitätskrise keinen Aufschub mehr dulden (5 vor 12 war es schon längst), sondern auch weil das viele Geld, das jetzt in die Hand genommen wird, um die Wirtschaft zu stabilisieren, nicht verschwendet werden darf. Verschwendet, um genau die Strukturen aufrecht zu erhalten, die uns bedrohlich nahe an den Abgrund gebracht haben.
Kurz und knackig beschreibt Waldemar Zeiler, woran es seiner Meinung nach krankt. Und er beschreibt wie wir auch anders agieren könnten und – wo immer der Kontext gegeben ist – wie das von ihm mit gegründete Unternehmen Einhorn Products auch bewusst anders agiert: nachhaltig, ökologisch, fair und menschenwürdig.
Selbst wenn der Leserin bzw. dem Leser grundlegende Inhalte oberflächlich bekannt sind, so beeindruckt der Autor einerseits mit umfassenden Recherchen, deren Ergebnisse in jedem einzelnen Kapitel einfließen und die er so lesenswert zusammenfügt und andererseits mit der Konsequenz, wie er seine Vision einer besseren Welt auch konsequent in „seinem“ Unternehmen umsetzt.
Sein Buch, eine Streitschrift für einen raschen, tiefgreifenden Wandel der Wirtschaft, ist seit Wochen auf der Spiegel Bestsellerliste Wirtschaft.
Unfuck Ungleichheit bzw. Fuck up mit Geschichte
Das etablierte globale Wirtschaftssystem, das in groben Zügen einen reichen globalen Norden und einen verarmten globalen Süden umfasst, ist im Wesentlichen eine Geschichte des Krieges, der Eroberung, Versklavung und Ausbeutung, die in abgewandelter Form bis heute anhält, auch wenn wir das aus Bequemlichkeit gerne ausblenden.
Diese Aussage gilt für etliche andere, plakativ dargestellte Ungleichheiten: jene zwischen Mann und Frau, die u.a. darauf fußt, dass 75% der unentgeltlichen Arbeit (Haushalt, Kindererziehung, Pflege) in unseren Gesellschaften von Frauen erbracht werden. Besonders perfide ist, dass dieser unentbehrliche Beitrag in der heute dominierenden Maßzahl für Wohlstand, dem BIP, nicht im Geringsten berücksichtigt wird. Oder die Ungleichheit zwischen denen, denen die Unternehmen gehören, und auf die sich über die Maximierung des Shareholder Values alle Aufmerksamkeit konzentriert, und jenen, die darin arbeiten und den Wohlstand wesentlich erschaffen.
Dass es auch anders geht beweist der Autor mit Einhorn Products: ein sog. Purpose Unternehmen, voll auf einen tiefen Sinn ausgerichtet, sich selbst gehörend und auch nicht veräußerbar. Was in Deutschland und Österreich wie Utopie klingt, ist woanders weit verbreitet. Wenn keine Dividenden mehr gezahlt werden müssen, wenn keine Managerboni die Gewinne schmälern, dann wird – wie bei Einhorn – plötzlich möglich, dass 25% der Mitarbeiter sich ausschließlich um „Fairstainability“ kümmern können, dass alternative Zeitmodelle und Entscheidungsmodelle erprobt werden usw. Würde Nestlé dasselbe machen, dann wären dort 77.000 Menschen nur damit beschäftigt dafür zu sorgen, dass die Produkte nachhaltig und fair produziert würden.
Unfuck Klima- und Biodiversitätskrise oder: Leichen pflastern unseren Weg
Leider erzeugt unser Wirtschaftssystem nicht nur Ungleichheit, sondern es geht buchstäblich über Leichen. Jene von Menschen, die in Fabriken ohne Sicherheitsstandards ums Leben kommen und noch mehr jene von Tieren. Die Liste der Arten, die das vergangene Jahrhundert nicht überlebt haben und die im noch jungen 21. Jahrhundert schon ausgestorben oder stark gefährdet sind ist erschreckend lange.
Auch hier sieht Waldemar Zeiler ganz wesentlich Unternehmen gefordert, ihr Verhalten zu ändern und im ersten Schritt ihre Produktionsschritte so weit wie möglich zu ökologisieren und dort, wo ökologischer Impact unvermeindbar ist, dies zu kompensieren, z.b. CO2 Ausstoß durch das Pflanzen von Bäumen Finanzierung von Beseitigung von Meeresverschmutzung bei Verwendung von Verpackungsmaterial aus Plastik. Würde Coca-Cola das im selben Ausmaß (gemessen am Umsatz) machen wie Einhorn stünden hunderte Millionen für derartige Aktionen zur Verfügung.
Dasselbe gilt, wenn Volkswagen, mit über 2 % Teilhabe am weltweiten CO2 Ausstoß, Bäume pflanzen würde. Aber nein, lieber werden selbst im Krisenjahr 2020 bei VW rund 3 Mrd. Euro an Dividenden gezahlt, während gleichzeitig nach einer staatlichen Abwrackprämie gerufen wird.
Unfuck Politik: Demokratie=Herrschaft des Volkes? Fehlanzeige.
Dass der Wandel so langsam oder sogar gar nicht voran kommt liegt nicht zuletzt daran, dass die Politik selbst in Demokratien nicht im Geringsten mit dem Willen breiter Bevölkerungsschichten korreliert. Massiver Lobbyismus ohne Transparenz, Drehtüren von Wirtschaft zu Politik und wieder retour sorgen dafür, dass stets der Wille weniger mehr Gewicht hat als das Wollen vieler.
Zeiler plädiert für ein vollkommen transparentes Lobbyregister sowie für Konkurrenzklauseln für Politiker aber auch Beamte, sodass diese nicht unmittelbar von der Politik oder dem Amt in Unternehmen (oder Lobbying für Unternehmen) wechseln können, für die sie früher Aufsichtsbefugnisse hatten. Um Bewegung in die Sache zu bringen hatte Einhorn selbst für 2020 ein Demokratiesymposium mit 70.000 Teilnehmern geplant, sogar die Finanzierung war dank Crowdfunding gesichert, doch Corona machte dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung.
Globale Zerstörung für Bullshit-Jobs
Vollends fassungsloses macht aber, dass lediglich 15% der Arbeitnehmer ihre Arbeit schätzen und sich mit ihrem Unternehmen identifizieren, wohingegen 85% lediglich Dienst nach Vorschrift machen oder sogar innerlich gekündigt haben. Diese Tatsache muss man sich einfach auf der Zunge zergehen lassen: wir zerstören den Planeten bzw. unsere Lebensgrundlagen und machen das mit Arbeitsplätzen, die uns nichts wert sind und uns unglücklich machen.
Und das nur deshalb, weil wir ja überleben wollen, was uns, wenn wir so weitermachen, nicht mehr lange gelingen wird. Auch hier beweist Waldemar Zeiler, dass es auch ganz anders ginge. In diesem Abschnitt nimmt er umfassend Bezug zum Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux (das in einem weiteren Beitrag rezensiert wird) und beschreibt, was bei Einhorn alles getan (und unterlassen) wird, damit möglichst alle mit ihrer Arbeit glücklich sind und sich mit den Unternehmenswerten identifizieren können.
Was wir anders tun könnten (und sollten)
- BürgerInnenräte einberufen, um wichtige gesellschaftliche Fragen oder auch Problemstellungen zu bearbeiten. Sie helfen der Demokratie auf die Sprünge und wirken der Politikverdrossenheit entgegen. Es gibt dazu äußerst ermutigende Beispiele aus Deutschland und eine berührende Geschichte aus Irland (180° Geschichten gegen den Hass, Podcast)
- Einen “hippokratischen Eid” für UnternehmerInnen und Unternehmen einführen, der uns verpflichtet, mit unserem Wirken die Würde aller Menschen in unseren Lieferkette zu respektieren und Verantwortung für unser Unternehmen, den Zusammenhalt der Gesellschaft und den Schutz unserer Lebensräume zu übernehmen.
- Erkenntnisse z.b. der Theory-U (siehe z.B. Wikipedia) nutzen, Presencing zu üben (unser gewohntes Umfeld mit offenen Augen neu wahrnehmen), einander bewusster zuzuhören, unsere Rollen, Berufe, Herkunft, Ego loszulassen und so gemeinsam neue Möglichkeiten erkennen und Prototypen zu entwickeln, die wir dann ständig weiter entwickeln können
- Unser eigenes Menschenbild erforschen und bereits sein anzunehmen, dass Menschen im Grund gut sind und das vorherrschende Narrative nicht korrekt sind
Abschließend schlägt Waldemar Zeiler konkrete Handlungen für einzelne Gesellschaftsgruppen vor. Als Unternehmer denke ich konkret nach über:
- Überführung des Unternehmens in Verantwortungseigentum
- Erstellung einer Gemeinwohlbilanz, um zu erfahren, welchen Beitrag mein Unternehmen zum Gemeinwohl leistet
- MitarbeiterInnen die Verantwortung zu geben, im Sinne des Unternehmens und in ihrem Sinne Entscheidungen zu treffen (siehe hierzu insbesondere auch https://www.reinventingorganizations.com/)
- Sichtbarmachung des ökologischen Impacts sowie Kompensation durch z.b. Aufforstung
Fazit
Dieses Buch ist ein Aufwecker in jeder Hinsicht. Ein dringender Appell, das Ruder herumzureißen. Ein Augenöffner oder auch nur eine unbequeme Erinnerung an Dinge, die die Leserin und der Leser ohnehin schon wissen. Aber vor allem ist es eines: eine Inspiration und der Beweis, dass wir sehr rasch ganz anders tun können, wenn wir nur wollen. Gepaart mit wichtigen Hinweisen, was wir für diesen Wandel auch alles lernen müssen. Ich bin überzeugt, es lohnt sich.
Wer dieses Buch lesen sollte
Alle, die nicht tatenlos zusehen wollen, wie wir unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaften an die Wand fahren, die unternehmerisches Denken und die Sehnsucht nach neuen Lösungen miteinander verbinden und selbst handeln wollen. Idealerweise in ihren eigenen Unternehmen.
Zum Autor
In Deutschland ist Waldemar Zeiler seit einiger Zeit als einer der Gründer des erfolgreichen Startups Einhorn Products (Kondome und Menstruationsprodukte auf ökologischer und fairtrade Basis) bekannt. Seine persönliche Geschichte ist die des Wandels: vom Jungunternehmer, der mit 30 Millionär sein wollte, der ein Startup nach dem anderen gründete um dieses Ziel zu erreichen. Serial Entrepreneur nennen sich deswegen manche Zeitgenossen. Serienscheiterer nennt sich der Autor, denn keines seiner Startups war so erfolgreich, wie er sich das gewünscht hätte.
Das sechste verließ er in einer tiefen persönlichen Krise, da er erkannt hatte, wohin dieses Streben und diese Wirtschaft uns unweigerlich führen werden: in eine tiefe ökologische und humanitäre Krise. Erstaunlicherweise hat er nun, mit einem den herrschenden Standards grotesk widersprechenden hippiehaften Startup, jenen ökonomischen Erfolg, den er früher immer angestrebt hatte.
Waldemar Zeiler (mit Katharina Höftmann Ciobotaru): Unfuck the Economy
Verlag: Wilhelm Goldmann, München, Oktober 2020
ISBN: 978-3-442-31595-6